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Autismus bei Erwachsenen

Für Betroffene kann die späte Diagnose einer ASS im Erwachsenenalter einerseits eine Erleichterung sein, da sie endlich eine Erklärung für ihre Schwierigkeiten finden. Andererseits stehen sie oft vor der Aufgabe, sich mit der neuen Identität als Autist auseinanderzusetzen und geeignete Unterstützungsangebote zu finden.

Ausprägungen von ASS als Erwachsener

Autismus manifestiert sich bei Erwachsenen oft anders als bei Kindern. Viele Betroffene haben im Laufe ihres Lebens Bewältigungsstrategien entwickelt, um mit den Herausforderungen des Alltags umzugehen. Dennoch können sie weiterhin Schwierigkeiten in verschiedenen Bereichen haben:

  • Soziale Interaktion: Erwachsene mit ASS können Probleme haben, soziale Signale zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Sie können Schwierigkeiten haben, Freundschaften zu schließen und aufrechtzuerhalten.
  • Kommunikation: Betroffene können Schwierigkeiten haben, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken oder die Perspektive anderer zu verstehen. Einige haben eine sehr direkte oder wortwörtliche Kommunikationsweise.
  • Sensorische Empfindlichkeiten: Viele Erwachsene mit ASS sind empfindlich gegenüber bestimmten Sinnesreizen wie Licht, Geräuschen oder Texturen, was zu Überlastung und Stress führen kann.
  • Routinen und Interessen: Betroffene können ein starkes Bedürfnis nach Struktur und Vorhersehbarkeit haben. Sie können intensive, spezifische Interessen entwickeln und viel Zeit damit verbringen.

Prävalenz von Autismus bei Erwachsenen

Die globale Lebenszeitprävalenz von ASS, also der Anteil der Bevölkerung, der irgendwann im Leben von ASS betroffen ist, wird auf etwa 1% geschätzt. Das bedeutet, dass weltweit etwa einer von 100 Menschen eine Autismus-Spektrum-Störung hat.

Genaue Zahlen zur Häufigkeit von ASS speziell bei Erwachsenen sind schwieriger zu ermitteln, da viele Betroffene erst spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 1-2% der Erwachsenen von ASS betroffen sind.

Entwicklung der Prävalenz von ASS

In den letzten Jahrzehnten wurde ein Anstieg der gemeldeten Fälle von ASS beobachtet. Dies hat zu Diskussionen darüber geführt, ob die tatsächliche Häufigkeit von Autismus zugenommen hat. Experten gehen jedoch davon aus, dass der Anstieg hauptsächlich auf verbesserte Diagnosemethoden, ein breiteres Verständnis von ASS und eine größere Aufmerksamkeit für die Störung zurückzuführen ist.

Studien deuten darauf hin, dass die Prävalenz von ASS in den letzten 20 Jahren relativ stabil geblieben ist, wenn man Veränderungen in den Diagnosekriterien und -praktiken berücksichtigt. Es ist jedoch wichtig, weitere Forschung durchzuführen, um die genaue Entwicklung der Prävalenz besser zu verstehen.

Änderungen in der Klassifikation von ASS

Mit der Einführung der ICD-11 ergeben sich einige Veränderungen in der Klassifikation und Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) im Vergleich zur vorherigen Version, der ICD-10. Diese Änderungen zielen darauf ab, die Diagnosekriterien präziser und zeitgemäßer zu gestalten und somit eine genauere Erfassung und Behandlung betroffener Personen zu ermöglichen.

In der ICD-11 werden die verschiedenen Subtypen von Autismus-Spektrum-Störungen, die in der ICD-10 noch separat aufgeführt waren, unter dem übergeordneten Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“ zusammengefasst. Dies bedeutet, dass die vormals eigenständigen Diagnosen wie frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus und Asperger-Syndrom nun als Varianten innerhalb des Autismus-Spektrums betrachtet werden. Dieser Schritt trägt der Erkenntnis Rechnung, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Subtypen oft fließend sind und eine einheitliche Bezeichnung die Kommunikation zwischen Fachleuten und Betroffenen erleichtert.

Diagnostische Erfassung und Spezifizierung von ASS in der ICD-11

Die diagnostischen Kriterien für ASS in der ICD-11 orientieren sich an den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und berücksichtigen die Heterogenität der Symptomatik. Die Kernsymptome von ASS werden in zwei Bereiche unterteilt:

  1. Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion: Diese äußern sich beispielsweise durch Schwierigkeiten im Verständnis und der Verwendung nonverbaler Kommunikation, Probleme beim Aufbau und der Aufrechterhaltung von Beziehungen sowie eingeschränkte Fähigkeiten zur sozialen und emotionalen Gegenseitigkeit.
  2. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten: Hierzu zählen unter anderem stereotype Bewegungen, das Bestehen auf Routinen, fixierte Interessen von ungewöhnlicher Intensität sowie eine Über- oder Unterempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen.

Um eine ASS-Diagnose zu stellen, müssen Auffälligkeiten in beiden Bereichen vorliegen und bereits in der frühen Kindheit erkennbar sein, auch wenn sie sich möglicherweise erst später vollständig manifestieren. Zusätzlich zur Feststellung einer ASS ermöglicht die ICD-11 eine Spezifizierung des Schweregrades in den Bereichen soziale Kommunikation und repetitives Verhalten sowie eine Beurteilung der kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten. Diese Zusatzinformationen tragen dazu bei, ein differenzierteres Bild der individuellen Ausprägung zu erhalten und passende Unterstützungsmaßnahmen zu planen.

Insgesamt bietet die ICD-11 eine aktualisierte und vereinheitlichte Grundlage für die Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen, die der Vielfalt der Symptomausprägungen Rechnung trägt und eine individuelle Betrachtung ermöglicht. Durch die präziseren Kriterien und die Möglichkeit der Schweregradeinteilung können Betroffene zielgerichteter unterstützt und begleitet werden.

Symptomatik und Beschwerden von ASS

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) umfassen ein breites Spektrum an Symptomen und Beschwerden, die sich bei Betroffenen im Erwachsenenalter individuell sehr unterschiedlich ausprägen können. Während manche Autisten nur leicht beeinträchtigt sind, haben andere mit schwerwiegenden Einschränkungen zu kämpfen. In diesem Abschnitt werden die verschiedenen Symptombereiche und Besonderheiten näher beleuchtet, um ein besseres Verständnis für die Herausforderungen zu schaffen, mit denen erwachsene Menschen im Autismus-Spektrum konfrontiert sind.

Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) definiert für Autismus-Spektrum-Störungen folgende Kernsymptombereiche:

  • Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion: Autisten im Erwachsenenalter haben oft Schwierigkeiten, soziale Signale intuitiv zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Der Aufbau und die Aufrechterhaltung von Beziehungen fällt ihnen schwer. Auch der Blickkontakt und das Verstehen von Mimik und Gestik sind häufig beeinträchtigt.
  • Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster und Interessen: Erwachsene Menschen im Autismus-Spektrum zeigen oft stereotype Bewegungen oder Verhaltensweisen, haften an Routinen oder haben sehr spezifische, intensiv ausgelebte Spezialinteressen.
  • Auffälligkeiten in der sensorischen Wahrnehmung: Viele erwachsene Autisten sind entweder über- oder unterempfindlich auf bestimmte Sinnesreize wie Geräusche, Berührungen, Gerüche, Geschmäcker oder visuelle Reize.

Diese Symptome bestehen bereits seit der Kindheit, können sich aber im Erwachsenenalter verstärkt manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen.

Auffälligkeiten bei Erwachsenen

Obwohl die Grundsymptome von Autismus-Spektrum-Störungen sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen vorliegen, gibt es im Erwachsenenalter einige Besonderheiten, die näher betrachtet werden sollten. Die folgenden Punkte geben einen Einblick in häufige Auffälligkeiten und Herausforderungen, mit denen erwachsene Autisten konfrontiert sind:

  • Stimming: Repetitive Bewegungen wie Schaukeln, Fingerschnippen oder das Drehen von Objekten, sogenanntes Stimming, dienen erwachsenen Autisten zur Emotionsregulation und zum Stressabbau. In Überforderungssituationen verstärkt sich das Stimming häufig. Gleichzeitig hilft es aber auch dabei, sich selbst zu beruhigen und mit unangenehmen Reizen fertig zu werden. Jeder autistische Erwachsene hat meist seine eigenen spezifischen Stimmings, die er individuell als angenehm empfindet.
  • Camouflaging: Nicht bei allen erwachsenen Autisten sind die Symptome auf den ersten Blick erkennbar. Viele haben sich über die Jahre hinweg eine Art „Maske“ zugelegt – das sogenannte Camouflaging. Durch aufwendiges Beobachten und Analysieren ihrer Mitmenschen lernen sie, wie sie sich möglichst unauffällig verhalten können. Nach außen hin wirken sie dadurch oft „normal“, was aber mit einem hohen Kraftaufwand verbunden ist. Dieses Camouflaging führt bei Erwachsenen mit ASS häufig zu Erschöpfungszuständen, Überforderung und psychischen Problemen. Viele autistische Erwachsene beschreiben es als ein Gefühl, nicht sie selbst sein zu können und ihre wahre Identität verstecken zu müssen.
  • Inselbegabungen: Während sie in manchen Bereichen beeinträchtigt sind, verfügen viele erwachsene Autisten gleichzeitig über herausragende Fähigkeiten. Diese sogenannten Inselbegabungen oder Savant-Fähigkeiten können ganz unterschiedlicher Natur sein: Manche haben ein fotografisches Gedächtnis, andere sind mathematische Genies oder sprachlich hochbegabt. Wieder andere haben besondere künstlerische oder musikalische Talente. Meist hängen diese Inselbegabungen mit den Spezialinteressen zusammen, in die sich erwachsene Autisten mit großer Ausdauer und Detailverliebtheit vertiefen können. Dadurch erwerben sie ein enormes Wissen und außergewöhnliche Fertigkeiten in ihren jeweiligen Interessensgebieten. Dieses Potenzial gilt es zu erkennen und zu fördern.
  • Sinneswahrnehmungen: Bei vielen erwachsenen Autisten sind die Sinne entweder über- oder unterempfindlich. Überempfindlichkeiten äußern sich z.B. darin, dass sie Geräusche als zu laut, Gerüche als zu intensiv oder Berührungen als schmerzhaft wahrnehmen. Auf der anderen Seite nehmen manche Reize auch als zu schwach wahr und brauchen intensive Stimulation, um etwas zu spüren. Diese Besonderheiten der sensorischen Verarbeitung können sich im Laufe des Lebens auch verändern. Es ist für das Umfeld oft schwer nachvollziehbar, womit erwachsene Autisten hier zu kämpfen haben. Lärm, grelles Licht, Menschenmengen oder enge Kleidung können starke Beeinträchtigungen auslösen. Um solche Reizüberflutungen zu vermeiden, ziehen sich viele in ruhige, reizarme Umgebungen zurück oder tragen Kopfhörer zur Abschirmung. Andere „erden“ sich durch das gezielte Aufsuchen bestimmter Sinnesreize wie tiefe Druckmassagen oder schwere Decken.

Auffälligkeiten in der Sprache im Erwachsenenalter

Auch wenn viele erwachsene Autisten flüssig sprechen können, gibt es doch einige Besonderheiten in ihrer Sprache:

  • Häufig klingt die Stimme monoton und wenig melodisch
  • Die Lautstärke ist oft unangemessen (zu laut oder zu leise)
  • Es fällt ihnen schwer, die Sprachmelodie und Betonung situations- und kontextangemessen einzusetzen
  • Ironie und Wortspiele werden oft wörtlich verstanden
  • Redewendungen und Metaphern werden wörtlich interpretiert
  • Manchen fällt es schwer, flüssig und zusammenhängend zu sprechen (Wortfindungsstörungen, stockende Sprache)

Nicht immer sind diese sprachlichen Auffälligkeiten im Erwachsenenalter stark ausgeprägt, so dass sie im Alltag auffallen. Für autistische Erwachsene selbst sind sie aber oft mit Unsicherheiten und Missverständnissen verbunden. Es kostet sie viel Mühe, eine angemessene Unterhaltung aufrecht zu erhalten. Smalltalk ist eine besondere Herausforderung, weil er keine klaren Regeln und Strukturen hat. Auch mit der ungeschriebenen Etikette tun sich viele schwer, ebenso mit unausgesprochenen Erwartungen des Gegenübers. Hier sind Direktheit, Klarheit und wörtliche Sprache hilfreich, um Missverständnisse zu vermeiden.

Insgesamt zeigt sich, dass die Symptomatik bei Autismus-Spektrum-Störungen auch im Erwachsenenalter äußerst vielfältig ist und von Person zu Person stark variieren kann. Auch wenn die Kernsymptome bei allen Betroffenen vorliegen, gibt es doch eine enorme Bandbreite, wie sich diese im Einzelfall äußern. Die individuellen Ausprägungen und Schwerpunkte zu erfassen und darauf einzugehen, ist eine wichtige Voraussetzung, um erwachsene Autisten bestmöglich zu unterstützen. Neben den Defiziten dürfen dabei aber auch die besonderen Stärken und Begabungen nicht vergessen werden.

Diagnostischer Prozess und Diagnoseinstrumente

Die Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bei Erwachsenen stellt eine besondere Herausforderung dar. Im Gegensatz zur Früherkennung bei Kindern, bei denen Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten oft frühzeitig identifiziert werden können, haben Erwachsene mit ASS häufig bereits Bewältigungsstrategien entwickelt, die ihre Symptome teilweise kompensieren oder maskieren können. Dennoch ist eine sorgfältige diagnostische Abklärung von großer Bedeutung, um betroffenen Personen gezielte Unterstützung und Therapiemöglichkeiten anbieten zu können.

Die Diagnostik von ASS bei Erwachsenen erfordert ein systematisches, mehrstufiges Vorgehen. Folgende Schritte werden hierbei empfohlen:

  1. Ausführliche Anamnese: In einem ausführlichen Gespräch werden die Entwicklungsgeschichte, aktuelle Symptome, Alltagsschwierigkeiten und der berufliche sowie soziale Hintergrund der Person erfasst.
  2. Standardisierte Diagnoseinstrumente: Zur Objektivierung der Symptomatik kommen spezifische Autismus-Diagnostikverfahren zum Einsatz, wie beispielsweise:
    • Das Adult Asperger Assessment (AAA), welches vier Kernsektionen umfasst: eine diagnostische Checkliste, ein Fragebogen zur Erfassung der aktuellen Symptomatik, ein Instrument zur Erfassung von Kindheitssymptomen sowie ein strukturiertes Interview.
    • Die Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS-2), ein halbstrukturiertes Interview- und Beobachtungsverfahren.
    • Das Diagnostische Interview für Autismus – Revidiert (ADI-R), ein umfassendes diagnostisches Interview, das mit Bezugspersonen durchgeführt wird.
  3. Klinische Untersuchung: Eine gründliche körperliche und neurologische Untersuchung dient dem Ausschluss möglicher organischer Ursachen für die Symptomatik. Auch eine differenzialdiagnostische Abklärung hinsichtlich anderer psychischer Störungen ist wichtig.
  4. Selbstbeurteilungsfragebögen: Standardisierte Fragebögen wie beispielsweise der Autism Spectrum Quotient (AQ) oder die Empathy Quotient (EQ) und Systemizing Quotient (SQ) Skalen können ergänzend eingesetzt werden, um die Selbstwahrnehmung der Betroffenen zu erfassen.

Herausforderungen der Diagnostik im Erwachsenenalter

Die Diagnosestellung einer ASS im Erwachsenenalter gestaltet sich oft schwieriger als im Kindesalter. Gründe hierfür sind:

  • Erwachsene mit ASS haben häufig gelernt, ihre Schwierigkeiten zu kompensieren oder zu verbergen, was die Symptome weniger offensichtlich macht.
  • Retrospektive Angaben zur frühkindlichen Entwicklung sind oft lückenhaft oder nicht mehr zuverlässig abrufbar.
  • Begleitende psychische Störungen wie Depressionen oder Angststörungen können das klinische Bild überlagern und die Diagnosestellung erschweren.

Dennoch ist eine valide Diagnose einer ASS grundsätzlich in jedem Alter möglich, sofern die diagnostischen Kriterien sorgfältig geprüft und mögliche Differenzialdiagnosen ausgeschlossen werden.

Begleiterkrankungen und weitere Diagnosen bei Autismus

Wenn es um die Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen geht, spielen Komorbiditäten und Differentialdiagnosen eine entscheidende Rolle. Gerade bei der Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) im Erwachsenenalter können diese Faktoren die Abklärung erschweren und in die Länge ziehen. Doch was genau versteht man unter Komorbiditäten und Differentialdiagnosen? Und welche gilt es speziell bei ASS zu beachten?

Komorbiditäten und Differentialdiagnosen – eine Begriffsklärung

Unter Komorbiditäten versteht man das gleichzeitige Auftreten mehrerer Erkrankungen bei einer Person. Das bedeutet, zusätzlich zu der Hauptdiagnose – in diesem Fall ASS – sind noch weitere psychische Störungen vorhanden. Diese können unabhängig voneinander bestehen oder sich gegenseitig bedingen und aufrechterhalten.

Differentialdiagnosen hingegen bezeichnen Krankheitsbilder, die aufgrund ähnlicher Symptome ebenfalls als Erklärung für die Beschwerden eines Patienten in Frage kommen. Bei der Diagnosestellung gilt es abzuwägen, welche der möglichen Störungen am wahrscheinlichsten ist und die Symptomatik am besten erklärt. Hierzu müssen die Differentialdiagnosen sorgfältig gegeneinander abgegrenzt werden.

Häufige Differentialdiagnosen bei ASS im Erwachsenenalter

Die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter erfordert den Ausschluss verschiedener anderer psychiatrischer Erkrankungen, deren Symptome sich mit denen einer ASS überschneiden können. Dazu zählen unter anderem:

  • Soziale Phobien: Auch hier bestehen oft Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen und Ängste vor Bewertung durch andere. Im Gegensatz zur ASS steht jedoch die Angst im Vordergrund und es fehlen die übrigen autistischen Symptome wie stereotype Verhaltensweisen oder spezielle Interessen.
  • Zwangsstörungen: Repetitive Verhaltensweisen und ein Bestehen auf Routinen finden sich sowohl bei ASS als auch Zwangserkrankungen. Entscheidend zur Abgrenzung ist, ob die Symptome ich-synton erlebt werden, also zur Persönlichkeit passend, oder als ich-dyston und störend empfunden werden.
  • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS): Insbesondere bei Menschen mit ASS ohne Intelligenzminderung kann auch ein ADHS eine mögliche Erklärung für Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion darstellen.
  • Persönlichkeitsstörungen, v.a. schizoide und schizotypische: Die Beeinträchtigungen im sozialen Kontakt und das zurückgezogene Verhalten können hier Ähnlichkeiten zu ASS aufweisen.

Welche dieser und weiterer Differentialdiagnosen im individuellen Fall in Erwägung gezogen werden müssen, hängt von der konkreten Symptomatik und Vorgeschichte des Patienten ab.

Typische Komorbiditäten bei Erwachsenen mit ASS

Bei einem Großteil der Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung treten komorbid, also zusätzlich zur ASS, noch weitere psychische Erkrankungen auf. Zu den häufigsten zählen:

  • Depressionen: Viele Erwachsene mit ASS entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Depression, oft als Folge der Belastung durch die mit der ASS einhergehenden Beeinträchtigungen.
  • Angststörungen: Auch Ängste und Phobien treten bei Menschen mit ASS gehäuft auf. Neben spezifischen Phobien finden sich insbesondere soziale Ängste und generalisierte Angststörungen.
  • ADHS: Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 30-50% der Erwachsenen mit ASS auch die Kriterien eines ADHS erfüllen.
  • Zwangsstörungen: Bei 7-24% der Betroffenen tritt komorbid eine Zwangserkrankung auf.

Oft bedingen sich ASS und Komorbiditäten gegenseitig, so dass die zusätzlichen Erkrankungen als Folge der Belastungen durch die ASS verstanden werden können. Gleichzeitig erschweren sie häufig den Umgang mit den autistischen Symptomen.

Herausforderungen für die Diagnostik

Die Überschneidungen von Symptomen der Autismus-Spektrum-Störung mit anderen psychischen Erkrankungen macht die diagnostische Einordnung zu einer komplexen Aufgabe. Da viele Merkmale sowohl im Rahmen der Differentialdiagnosen als auch der Komorbiditäten auftreten können, müssen all diese möglichen Erklärungen berücksichtigt und sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Dazu ist eine umfassende Erhebung der psychopathologischen Befunde sowie der Entwicklungsgeschichte des Patienten notwendig. Für eine valide Diagnosestellung reicht oftmals ein einmaliger Querschnitt nicht aus, vielmehr muss die Symptomatik im Längsschnitt betrachtet werden.

Hinzu kommt, dass sich die Merkmale einer ASS individuell sehr unterschiedlich äußern und durch die Komorbiditäten überlagert werden können. Die im Erwachsenenalter typischen kompensatorischen Strategien erschweren zusätzlich die Erkennbarkeit einer ASS. Daher erfordert eine zuverlässige Diagnosestellung bei Erwachsenen neben einer sorgfältigen Differentialdiagnostik auch eine Berücksichtigung der individuellen Symptomausprägung und -konstellation über die Lebensspanne hinweg. Nur wenn Komorbiditäten und Differentialdiagnosen gleichermaßen beachtet werden, ist eine valide Einordnung der Symptomatik möglich.

Besonderheiten bei Erwachsenen mit ASS

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind komplexe Entwicklungsstörungen, die sich auf verschiedene Bereiche des Lebens auswirken. Während bei Kindern die Diagnose oft früher gestellt wird, bleibt Autismus bei Erwachsenen häufig unentdeckt. Dies liegt unter anderem daran, dass sich die Symptome im Laufe des Lebens verändern und anpassen können. Im Folgenden werden einige Besonderheiten bei Erwachsenen mit ASS näher beleuchtet.

Gründe für die späte Entdeckung von Autismus bei Erwachsenen

Es gibt verschiedene Gründe, warum Autismus bei Erwachsenen oft unentdeckt bleibt:

  • Anpassungsstrategien: Viele Autisten entwickeln im Laufe ihres Lebens Strategien, um besser mit den Herausforderungen des Alltags umzugehen. Sie lernen, soziale Situationen zu meistern, indem sie Verhaltensweisen imitieren oder sich an feste Routinen halten. Dadurch können die Symptome nach außen hin weniger auffällig erscheinen.
  • Fehldiagnosen: Autismus wird häufig mit anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder ADHS verwechselt. Die eigentliche Ursache der Probleme bleibt dabei unerkannt.
  • Mangelndes Bewusstsein: Das Wissen über Autismus hat in den letzten Jahren zwar zugenommen, dennoch gibt es immer noch viele Wissenslücken und Vorurteile. Besonders bei älteren Erwachsenen wird eine ASS oft nicht in Betracht gezogen.

Herausforderungen im Alltag von Autisten

Der Alltag stellt für Menschen mit ASS oft eine große Herausforderung dar. Hierzu zählen unter anderem:

  • Reizüberflutung: Autisten nehmen Sinneseindrücke oft intensiver wahr als andere Menschen. Laute Geräusche, grelles Licht oder Menschenmengen können schnell zu einer Überforderung führen. Der ständige Stress führt nicht selten zu Erschöpfungszuständen.
  • Unvorhergesehene Ereignisse: Viele Autisten sind auf feste Routinen und Strukturen angewiesen, um sich sicher zu fühlen. Unvorhergesehene Ereignisse wie Terminänderungen oder Störungen im Tagesablauf können stark verunsichern und Stress auslösen.
  • Kommunikationsprobleme: Die Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation erschweren oft den Alltag, besonders im Berufsleben. Missverständnisse und Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten sind nicht selten die Folge.

Autismus und soziale Interaktion

Eines der Kernmerkmale von Autismus sind Schwierigkeiten im sozialen Bereich. Dazu gehören:

  • Schwierigkeiten, soziale Signale zu deuten: Autisten fällt es oft schwer, Mimik, Gestik und Tonfall richtig zu interpretieren. Indirekte Botschaften oder Ironie werden häufig missverstanden, was zu Verwirrung und Unsicherheit führt.
  • Einseitige Kommunikation: Smalltalk und der Austausch über Befindlichkeiten fallen Autisten meist schwer. Stattdessen sprechen sie oft sehr ausführlich über ihre Spezialinteressen, ohne zu merken, wenn ihr Gegenüber gelangweilt ist.
  • Vereinsamung: Aufgrund der Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, sind viele Autisten einsam und isoliert. Häufig haben sie den Wunsch nach Freundschaft und Partnerschaft, wissen aber nicht, wie sie auf andere zugehen sollen.

Systematisierung und Empathie

Laut der Empathisierungs-Systematisierungs-Theorie haben Menschen mit ASS oft eine überdurchschnittliche Fähigkeit zum systematischen Denken, während ihre Empathiefähigkeit geringer ausgeprägt ist. Das bedeutet:

  • Systematisierungsleistungen: Autisten können oft sehr gut logische Zusammenhänge erkennen und komplexe Systeme analysieren. Sie haben häufig außergewöhnliche Fähigkeiten in Bereichen wie Mathematik, Informatik oder Naturwissenschaften.
  • Empathisierungsleistungen: Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und emotionale Signale intuitiv zu erfassen, ist bei Autisten meist weniger stark ausgebildet. Dies führt oft zu Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Theorie nicht auf alle Autisten zutrifft und die individuellen Ausprägungen sehr unterschiedlich sein können.

Therapie bei Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störungen

Für Erwachsene mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) stehen verschiedene therapeutische Ansätze zur Verfügung, die darauf abzielen, die individuellen Herausforderungen und Symptome zu bewältigen und die Lebensqualität zu verbessern. Die Therapie bei ASS im Erwachsenenalter erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der auf die spezifischen Bedürfnisse und Stärken des Einzelnen zugeschnitten ist.

Zu den empfohlenen Therapien für Erwachsene mit ASS gehören:

  • Verhaltenstherapie: Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist ein evidenzbasierter Ansatz, der darauf abzielt, dysfunktionale Denk- und Verhaltensmuster zu verändern. Durch die Arbeit mit einem Therapeuten lernen Betroffene, ihre Gedanken und Gefühle besser zu verstehen, Bewältigungsstrategien zu entwickeln und soziale Fähigkeiten zu verbessern.
  • Soziales Kompetenztraining: Viele Erwachsene mit ASS haben Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen. Speziell entwickelte Trainingsprogramme wie das PEERS®-Programm oder das KONTAKT-Programm können helfen, soziale Fähigkeiten und Kompetenzen zu verbessern, Freundschaften aufzubauen und aufrechtzuerhalten.
  • Unterstützung im Alltag und Beruf: Praktische Hilfe bei der Organisation des Alltags, der Strukturierung von Aufgaben und der Bewältigung von Veränderungen kann für viele Erwachsene mit ASS entlastend sein. Arbeitscoaching, Berufsberatung und Unterstützung am Arbeitsplatz können dazu beitragen, berufliche Herausforderungen zu meistern.

Evidenz von Therapiemanualen bei ASS

Es liegen verschiedene Therapiemanuale für die Behandlung von ASS im Erwachsenenalter vor, die in Studien untersucht wurden. Dazu gehören beispielsweise:

  • Das Freiburger Asperger-Interaktions-Training (FAIT), das in einer Studie von Gawronski et al. (2017) positive Effekte auf soziale Fähigkeiten und die Lebensqualität zeigte.
  • Das Gruppentraining sozialer Kompetenzen für Erwachsene mit ASS (GSKS-EA), das in einer Studie von Hesselmark et al. (2014) Verbesserungen in sozialen Fähigkeiten und der Psychopathologie nachweisen konnte.

Insgesamt ist die Evidenzlage für Therapiemanuale bei ASS im Erwachsenenalter noch begrenzt, aber vielversprechend. Weitere Forschung ist notwendig, um die Wirksamkeit verschiedener Ansätze zu untersuchen.

Medikamentöse Behandlung bei ASS

Medikamente spielen bei der Behandlung von ASS eine untergeordnete Rolle und zielen hauptsächlich auf die Linderung von Begleiterscheinungen wie Angststörungen, Depressionen oder Schlafstörungen ab. Es gibt kein spezifisches Medikament zur „Heilung“ von ASS. Die Entscheidung für oder gegen eine medikamentöse Behandlung sollte individuell mit einem erfahrenen Arzt abgewogen werden.

Prognose und Einflussfaktoren bei ASS

ASS sind chronische Entwicklungsstörungen, die nicht „geheilt“ werden können. Dennoch können viele Betroffene durch geeignete Therapien und Unterstützung lernen, besser mit ihren Herausforderungen umzugehen und ein erfülltes Leben zu führen. Die Prognose hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter:

  • Schweregrad der Symptome
  • Kognitive Fähigkeiten und Sprachentwicklung
  • Zugang zu Therapien und Unterstützung
  • Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen
  • Soziale Unterstützung und Akzeptanz im Umfeld

Mit geeigneter Förderung können viele Erwachsene mit ASS eine gute Lebensqualität erreichen, selbstständig leben, Beziehungen eingehen und im Beruf erfolgreich sein. Dennoch bleiben soziale und kommunikative Herausforderungen oft lebenslang bestehen.

Die berufliche und partnerschaftliche Situation von Erwachsenen mit ASS ist sehr individuell. Einige Betroffene finden Nischen, in denen sie ihre Stärken einbringen können, andere benötigen mehr Unterstützung. Offenheit, Verständnis und Akzeptanz im privaten und beruflichen Umfeld sind wichtige Faktoren für ein erfülltes Leben mit ASS.